Die Bücher der letzten Tage… Warum Realität selten mehr genervt hat, und was Fantasy dagegen tun kann.

Wer sich beruflich mit Dystopien, Postapokalyse und literarischen Seuchen beschäftigt, hat in der jetzigen Situation einen kleinen mentalen Vorsprung: Die Lektüre endzeitlicher Fantasy- und Science-Fiction-Literatur hat dafür gesorgt, dass wir SFF-Leser schon viele Male Umwälzungen wie die Corona-Pandemie „überlebt“ haben. Überlebt haben wir zwar „nur“ in unserer Fantasie. Aber einige der Szenarien, mit denen sich viele Nicht-Phantasten gerade täglich zum ersten Mal konfrontiert sehen, haben wir Genreleser schon zigmal erlebt – und vielleicht die ein oder andere Erkenntnis aus einem Buch gewonnen: Dank Max Brooks‘ „Zombie Survival Guide“ weiß ich beispielsweise einen guten Baseball-Schläger im Haushalt zu schätzen; seit der Lektüre von „Der Übergang“ hat sich mein empathisches Empfinden für Geflüchtete massiv gesteigert; der Roman „Ein Junge, sein Hund und das Ende der Welt“ hat mir voller Leichtigkeit demonstriert, dass gerade eine Welt, die nur noch aus Bruchstücken besteht, die größte Zuversicht bieten kann (der Roman erscheint am 27. April. Das richtige Buch zur richtigen Zeit).

Wer Fantasy und Science Fiction liest, ist aktuell ausnahmsweise mal der Nische entkommen und im Realitätsmainstream angekommen. Doch leider hat die Realität selten mehr genervt. Wie kommen nur all jene Leser zurecht, die zum Zwecke des Eskapismus am liebsten an die romantische Küste Cornwalls reisen statt sich strategisch gegen den Weltuntergang zu rüsten?

Ich fühle mich sonderbar privilegiert, weil ich auf gewisse Weise „vorbereitet“ bin. Weil die Lektüre phantastischer Stoffe mich sensibler gemacht hat für Epidemien, Bunkerleben, eine fremd gewordene Erdoberfläche. Es ist wie immer mit der Fiktion: Wer den Kopf aufmacht für fremde Welten, ungeahnte Konflikte, außergewöhnliche Szenarien kommt besser durch eine auf Abwege geratene Realität. Es gibt aber auch eine Kehrseite der Medaille: nämlich jene Mitmenschen, die aktuell der Realität nur Herr werden, indem sie sie ins Phantastische verdrehen. Klar, dass Verschwörungstheotien jetzt auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Und ja, ein Romanexposé, das zum Beispiel ein im Labor erzeugtes Virus auf die Welt loslässt, um die Weltwirtschaft zum Erliegen zu bringen, das lesen wir in den Lektoraten alle Nase lang. Doch dass genau Storys wie diese aktuell von Menschen geglaubt und in den sozialen Medien bis zum Abwinken geteilt werden, macht mich nervöser als das Virus selbst.

Die Osiandersche Buchhandlung beweist Humor – und weist zugleich auf die verkannten erzählerischen Möglichkeiten von SFF hin.

Ich bin froh, dass ab Montag in weiten Landesteilen die Buchhandlungen wieder eröffnen, um uns allen jenseits von Netflix & Co. wieder Zugang zu frischen Gedanken zwischen Buchdeckeln zu bieten. Dann endlich können alle Formen des entschleunigten Eskapismus wieder bedient werden – und mehr denn je empfehle ich den Nicht-Genre-Lesern mal den Griff ins Phantastische. Dass Camus‘ „Die Pest“ wieder gelesen wird, ist ganz großartig, aber schaut doch mal, was zeitgenössische Bücher wie „Der Übergang“, „Die drei Sonnen“ und „Das Licht der letzten Tage“ zu bieten haben, besonders in unserer jetzigen und noch anhaltenden Situation.

Das Gute an jener ist: Wir befinden uns nicht in der Postapokalypse – und übrigens auch nicht in einem Wirtschafts-Medizin-Thriller -, auch wenn es sich für den ein oder anderen so anfühlt. Es gibt die Welt, wie wir sie kennen, nach Corona natürlich noch. Wir werden alle irgendwann wieder außerhalb des Homeoffice arbeiten; unsere Kinder werden in den Kindergarten und die Schule gehen; wir werden wieder in den Urlaub fahren und Klopapier ohne Verknappung einkaufen können. Dennoch hat der Einfluss durch Corona auch Potenzial, unsere Welt nachhaltig zu verändern, z.B. wie wir Menschen uns in Zukunft begrüßen. Mit Science-Fiction hat auch das noch nicht viel zu tun, Traceing-Apps aber vielleicht schon. Wir brauchen noch etwas Geduld, um zu sehen, welchen Weg unsere neue Realität geht. Aber  manche Teile daraus werden phantastische Leser wiedererkennen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal ausspreche: Hier ein paar Empfehlungen, um unsere Welt dank Fantasy und Science Fiction besser zu verstehen. Reality sucks…

Liz Hand via Gerry Doyle at Twitter

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