Der blinde Fleck: Welche Stereotypen von Weiblichkeit (re)produziert werden, wenn Fantasy für Männer gemacht wird.

Braucht die Phantastik mehr weibliche Helden? Oder gibt es andererseits gar zu viele Frauen in phantastischer Literatur? Diese zwei Fragen umfassen ein Diskussionsfeld, das aktuell in Fantasy-Foren und –Blogs besprochen wird.

Der Hintergrund: Der Fantastikforscher Lars Schmeink hat dazu aufgefordert, mehr über die Repräsentation von Frauen in der Phantastik nachzudenken. Das tat er letzte Woche vor Publikum, nämlich beim dritten Treffen des Phantastischen-Autoren-Netzwerks. Dieses Branchentreffen habe ich dieses Jahr leider verpasst; ich konnte aufgrund der breiten Twitter- und Blogberichterstattung (#PAN18) aber zumindest digital dabei sein. Weil Tweets und sogar ein dreitägiges Branchentreffen aber nur begrenzt Möglichkeiten des Austauschs bieten, will Schmeink die Diskussion ausdehnen, nämlich auf die Blogs von Fantasyschaffenden – eine tolle Idee.

Was genau Schmeink Bedeutsames zu sagen hat, sollte man unbedingt unter den unten stehenden Links nachlesen. Mein Gedanke zur Debatte sieht folgendermaßen aus: Unseren Autoren sei Dank, haben wir eine wohltuende Fülle an weiblichen Helden in der Fantasy – und werden sie auch in den Romanen der Zukunft finden. Das Problem besteht allerdings dort, wo nicht Frauen nach Repräsentation suchen, sondern männliche Fantasy-Fans.

Die Phantastik ist ein Genre, das sich per se durch seinen Reichtum und nicht durch seinen Mangel an Frauenfiguren auszeichnet. Es gibt unzählige weibliche Protagonisten, die für mich persönlich Fantasy-Geschichte geschrieben haben. Diese Heldinnen konnten mir schon in meiner Jugend ein sehr wertvolles Wissen vermitteln, das in der realistischen Literatur rarer gesät war: wie man als Frau stark wird, ist und bleibt. Das haben mich damals Heldinnen wie Lindgrens Ronja Räubertochter, Zimmer-Bradleys Morgaine und Pullmans Lyra gelehrt; heute übernehmen das Martins Daenerys, Jeff VanderMeers Biologin oder Atwoods Desfred. (Gegen den Erfahrungsschatz dieser Wahnsinnsfrauen können Gretchen, Effi und Co. einpacken!) Für meinen persönlichen Weg vom lesenden Mädchen zur mit Literatur arbeitenden Frau konnte ich mehr als genug weibliche Vorbilder in Fantasyromanen finden – und das in den 90ern, als es noch nicht die Recherche- und Empfehlungsoptionen des Internets gab, sondern nur eine Kleinstadt-Buchhandlung! Abgesehen davon will mir kein einziger Fantasy-Roman einfallen, den ich privat gelesen habe und bei dem ich dachte: „Oh Mann, das ist aber mal eine schwache Frau.“

Heute helfe ich als Lektorin – und damit als indirekt Fantasy-Schaffende – dabei, weibliche Helden entstehen zu lassen. Wenn ich mich mit einem neuen Buchprojekt beschäftige, stechen mir bereits auf Exposébasis jene Geschichten ins Auge, die eine starke Protagonistin im Zentrum haben. Wenn ich eine Heldin als zu „schwach“ empfinde – was aus Lektorensicht nicht mit oberflächlicher oder gar körperlicher „Schwäche“ zu tun hat, sondern eher mit nicht ausreichender Identifikationsstärke für den Leser, unklarer Motivation oder zu geringer Fallhöhe –, dann sage ich das dem Autor und wir arbeiten zusammen am Aufbau der weiblichen Heldin. Auf die Frage, ob wir zu wenig starke Frauenfiguren in der Phantastik haben, kann ich das auch als Lektorin verneinen. Die Projekte, die ich einkaufe und betreue, zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie von spannenden, inspirierenden, polarisierenden und deshalb überzeugenden Protagonistinnen erzählen. Aktuelle Beispiele sind Kiera Brennans „Die Herren der Grünen Insel“, Heike Knaubers „Najaden – Das Siegel des Meeres“, Anne Trojas „Rheanne – An Bord der Adlerschwinge“ und ganz besonders C.E. Bernards „Palace of Glass“ – übrigens allesamt aus der Feder deutscher Autorinnen. Hätte ich deren Bücher als Jugendliche gelesen, hätte ich in Róisín, Meliaé, Rheanne und Rea echte und wertvolle Vorbilder gesehen.

Egal ob es um die Zahl der Autorinnen, Protagonistinnen, Leserinnen oder Frauen im Buchbusiness geht: Wenn die Frage ist, ob Weiblichkeit in der Phantastik ausreichend repräsentiert wird, würde ich sie privat wie beruflich mit Ja beantworten.

Das Problem liegt für mich anderswo: Wir müssen uns genau ansehen, welche Frauenfiguren in Fantasyformaten auftauchen, die vorranging nicht von Frauen, sondern von Männern rezipiert werden. Was ist mit Star Wars, Star Trek, Lego, Minecraft, Tombraider, Marvel, DC? Welche Stereotypen von Weiblichkeit werden (re)produziert, wenn es nicht primär um Identifikationsflächen für Frauen geht?

Wie problematisch ich die Darstellung von Ray und Jyn in Star Wars finde, habe ich in einem eigenen Artikel formuliert (https://whyrealitysucks.com/2017/01/13/star-wars-frauen/) – darüber hinaus kann man aber zahlreiche andere Frauen in Fantasyfiktionen für Männer ob ihres Repräsentationspotenzials anzweifeln. Ist beispielsweise Rachel Dawes in den Batman-Verfilmungen mehr als die stereotype Damsel-in-Distress? Nein. Was hat Lara Croft noch zu bieten, wenn ihre Oberweite auf normale Größe schrumpft? Nichts. Welche dunkle Seite verbirgt eigentlich Wonder Woman? Keine. Die Macher dieser Formate sind meiner Meinung nach diejenigen, deren Aufgabe es ist, weibliche Helden so darzustellen, dass sie nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer repräsentierbar sind – und nicht länger den Stereotypen zu entsprechen.

Apropos Stereotype: Klar, das Fantasygenre neigt naturgemäß dazu, solche zu nutzen. Dass dies aber nicht immer schlecht oder gar der einfachste Weg ist, um eine komplexe Erzählung zu gestalten, zeigt George R.R. Martin in Game of Thrones. Ist es nicht bemerkenswert, dass in der bedeutsamsten Fantasystory unserer Zeit jeder Stereotyp kunstvoll in sein Gegenteil gekehrt wird? Dass zum Beispiel die alles Weibliche ablehnende Ritterin Brienne romantische Gefühle für ihren ehrlosen Erzfeind entwickelt? Dass aus der scheuen Hofdame Sansa eine intrigante Kriegstreiberin wird? Dass aus der hoffnungsvollen Brautware Daenerys die wahnsinnige Herrscherin eines infertilen Königsgeschlechts wird? Ich finde es vorbildlich, wie Martin jede seiner Frauenfiguren anhand von Stereotypen in ihr Gegenteil kehrt und damit eine Bandbreite von hell bis dunkel, von gesund bis krank und von sittsam bis ehrlos usw. erzeugt.

Einen Facettenreichtum wie diesen in jeder einzigen Frauen-, aber auch Männerfigur abzubilden, sollte die Aufgabe aller Fantasy-Schaffenden sein – in der literarischen Phantastik, aber auch überall sonst, wo es um Repräsentation geht. Vor allem aber dort, wo es nicht Frauen, sondern Männer sind, die nach der Darstellung von Frauenfiguren fragen.

 

Quellen:

Brauchen wir mehr (interessante) Frauenfiguren in der Phantastik? https://www.tor-online.de/feature/buch/2018/04/brauchen-wir-mehr-frauenfiguren-in-der-phantastik/

Politische Dimensionen der Fantastik: http://larsschmeink.de/?p=3038

Gibt es zu viele Frauen in phantastischer Literatur? http://www.falkenhagen.de/

Film ab! Die Macht der Oberweite (Lara Croft): https://pinkstinks.de/film-ab-die-macht-der-oberweite

5 Kommentare zu „Der blinde Fleck: Welche Stereotypen von Weiblichkeit (re)produziert werden, wenn Fantasy für Männer gemacht wird.

  1. Hat dies auf Amalia Zeichnerin rebloggt und kommentierte:
    Die Diskussion um Diversität und Repräsentation in der Phantastik zieht im Moment weite Kreise. Beatrice Lampe hat sich in ihrem Blog interessante Gedanken gemacht zum Thema weibliche Charaktere in der Phantastik:

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  2. Hallo,
    auf jeden Fall ein paar interessante Gedanken. Einzig bei Lara Croft würde mich interessieren, von welcher Inkarnation du sprichst. Die, die mit dem 2013er Spiel begann, finde ich extrem interessant. Aus dem Gedanken heraus, was für ein Charakter eigentlich ein solches Spiel durchsteht, entsteht ein leicht nerdiger Bücherwurm, der im Verlauf der Geschichte feststellt, wie wenig Gewalt ihr eigentlich ausmacht. Meine diesbezügliche Lieblingsszene im Interquel-Comic ist, wie sie zusammen mit einer Freundin in London von zwei Straßenschlägern angegriffen wird, diese relativ mühelos abwehrt und ihre Begleiterin ihr danach sagt, dass sie sich mehr vor Lara als vor den Schlägern fürchtet, weil sie während des ganzen Kampfes gelächelt hat.

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    1. Danke dir für deinen spannenden Kommentar! Das 2013er Game ist spitze, gut, dass du das erwähnst. Ich hatte mich auf die Neuverfilmgung bezogen – folgender Artikel hat mich auf die Reaktion männlicher Lara-Croft-Fans aufmerksam gemacht: https://pinkstinks.de/film-ab-die-macht-der-oberweite/. In meinem Blogpost ist das ganze natürlich sehr vereinfacht dargestellt; da stellt Lara Croft nur einen Teaser in die Debatte dar. Danke jedenfalls, dass du der Figur ein paar weitere Facetten gibst.

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